Wir wollen nicht die Menschen verbessern – wir wollen bessere Menschen. Die Hartnäckigkeit der eugenischen Verführung
Im Jahr 1883 prägte Francis Galton, Universalgelehrter und Vetter des Vaters der Evolutionstheorie, Charles Darwin, das Wort »Eugenik« (aus griech. εὖ »gut« und γένος »Geschlecht«). In seinem Buch Inquiries into Human Faculty and Its Development definierte er diesen Begriff als »die Wissenschaft der Verbesserung des Bestandes, welche sich durchaus nicht auf Fragen der guten Zucht beschränkt, sondern, insbesondere beim Menschen, alle Faktoren berücksichtigt, seien sie noch so entfernt, die den geeigneten Rassen oder Blutstämmen dazu verhelfen, sich schnell gegen die weniger Geeigneten durchzusetzen«. Galtons Ideen und die von Darwin konnten sich unter anderem deshalb so schnell etablieren, weil sie die bereits existierenden, letztlich auf die calvinistische Prädestinationslehre zurückgehenden Theorien von Thomas Robert Malthus wissenschaftlich zu validieren schienen.
Gut zehn Jahre später, im Mai 1904, stellte Galton diese »Wissenschaft« hochrangigen Vertretern der britischen Gesellschaft während der ersten Sitzung der Sociological Society an der Universität von London vor. Vorsitzender der Sitzung war der Pionier der Statistik und Biometrik Karl Pearson. »Eugenik«, sagte Galton, »muß in das nationale Gewissen wie eine neue Religion hineingeführt werden. Sie ist berechtigt, in der Zukunft ein richtiggehender Glaubenssatz zu werden, denn die Eugenik hilft der Natur sicherzustellen, daß die Menschheit durch die geeignetsten Rassen vertreten wird. Was die Natur aber blindlings, langsam und erbarmungslos vollzieht, vermag der Mensch auf fürsorgliche, schnelle und gütige Art umzusetzen.«
Das Hauptwerkzeug für Galton und Pearson war die Biometrik. Während die Vertreter der klassischen Genetik in der Tradition des Augustinermönchs Gregor Mendel sich auf diskrete Eigenschaften wie Augenfarbe konzentrierten, die man bei Individuen einfach zählen konnte, bevorzugten Galton und seine Anhänger quantitative kontinuierliche Eigenschaften wie Körpergröße oder Intelligenz, die man in größeren Gruppen mittels statistischer Methoden analysierte. Zu diesem Zweck gründeten Galton und Pearson 1901 die Zeitschrift Biometrika.
Winston Churchill war Eugeniker
Galtons Ideen wurden in den seinerzeit in England herrschendend intellektuellen Kreisen begeistert aufgenommen und verbreiteten sich rasch durch das Britische Weltreich sowie vor allem in den Vereinigten Staaten. Überall wurden Galton-Gesellschaften gegründet, im Jahr 1907 allen voran die britische Eugenics Education Society. Nach seinem Tod wurde am University College London der Galton-Lehrstuhl für Eugenik nebst dem Galton-Labor für Biometrie gegründet, letzteres geführt von Karl Pearson. Diese Institutionen existieren bis zum heutigen Tag, wobei der Lehrstuhl an der Universität von London 1954 in Galton-Lehrstuhl für Humangenetik und die Eugenics Education Society zunächst 1926 in Eugenics Society umbenannt wurden. Erst 1989 wurde der Name der Eugenics Society in seine derzeitige Bezeichnung, Galton Institute, geändert. Die enge Beziehung zu Charles Darwin bei diesen eugenischen Bestrebungen ist evident, war sein Sohn Leonard Darwin doch von 1911 bis 1928 in der Nachfolge Galtons Präsident der Eugenics Education Society. Wichtige Mitglieder waren zudem der Fabianer und Schriftsteller H. G. Wells, der Politiker und spätere Premierminister Winston Churchill und die Befürworterin der Geburtenkontrolle und Abtreibung Marie Stopes. Die Zeitschrift dieser Gesellschaft, The Eugenics Review, existiert auch heute noch, änderte 1968 jedoch ihren Namen in Journal of Biosocial Science.
In Großbritannien kamen diese Ideen trotz mehrerer energischer Vorstöße insbesondere von Winston Churchill kaum über das Theoretische hinaus. Anders in den Vereinigten Staaten, wo sie auf fruchtbaren Boden fielen und in einer großen Zahl von Bundestaaten gesetzgeberisch umgesetzt wurden.
Eugenik war »wissenschaftlich« bewiesen
Der amerikanische Arzt und Ethnologe Samuel George Morton, ein Quäker, der oft als der Gründer der »amerikanischen Schule« der Anthropologie angesehen wird, argumentierte, daß die unterschiedlichen menschlichen Rassen einzeln geschaffen wurden und somit unterschiedliche Spezies darstellen. Ferner behauptete er, die intellektuelle Fähigkeit einer Rasse vom Schädelvolumen ableiten zu können. In seinem wichtigsten Werk, Crania Americana (1839), berichtete Morton, daß »Kaukasier« die größten (1 426 ml), die amerikanischen Ureinwohner mittelgroße (1 344 ml) und Schwarze die kleinsten Gehirne (1 278 ml) hätten.
Anders als in Großbritannien waren diese Ideen in der US-amerikanischen Gesellschaft weit verbreitet, da sie bestimmte Vorurteile in bezug auf die Überlegenheit der »nordischen Rassen« stützten. Während Mortons Ideen noch eine starke religiöse Komponente enthielten, lieferten die von Galton eine »wissenschaftliche« Begründung für diese Vorurteile und verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in der amerikanischen Bevölkerung. Die Eugenik galt damals – wie in unseren Tagen andere kontroverse Bereiche wie etwa die Klimawissenschaft – als »wissenschaftlich bewiesen« und wurde an den besten Universitäten gelehrt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, gab es auf Jahrmärkten, in Museumsausstellungen, in öffentlichen Vorlesungen und sogar bei Kanzelpredigten weitverbreitete öffentliche eugenische Bildungsangebote für die aufkommende Mittelschicht. Hunderte Berufsschulen, Universitäten und normale Schulen lehrten das Fach Eugenik.
1921 fand in New York der Zweite Internationale Eugenik-Kongreß statt. Ein Jahr später wurde die American Eugenics Society gegründet. Prominente Mitglieder und Sponsoren waren der Banker und Finanzmogul J. P. Morgan, der Arzt und Erfinder der Cornflakes, John Harvey Kellogg (der nicht nur die »Rassenmischung« bekämpfte, sondern Programme zur Zwangssterilisation von Menschen mit »geistigen Defekten« vorantrieb), die Feministin Margaret Sanger sowie Paul Popenoe, 1928 Gründungsmitglied der Human Betterment Foundation.
Ebenfalls anders als in England beschränkten sich diese Aktivitäten in Amerika nicht auf den akademischen Raum und den Bildungsbereich. Vielmehr fanden sie bald Eingang in die Gesetzgebung. So im Falle des Soziologen Edward Alsworth Ross von der Universität Stanford, eines engen Beraters des Präsidenten Theodore Roosevelt. Ross war ein harter Gegner der Einwanderung aus nichtnordischen Ländern und prägte für sie den Begriff »Rassenselbstmord« – die Einwanderung von »Horden menschlichen Mülls, der über uns in den letzten zehn Jahren hineinschwärmt«, müsse eingedämmt werden. 1924 begrenzte der Johnson–Reed Act die Einwanderung pro Land auf 2 Prozent des Anteils von Aussiedlern dieses Landes an der amerikanischen Bevölkerung im Jahr 1890. Hierdurch wurde ein Einwanderungsmuster geschaffen, das die Länder Nordeuropas (Großbritannien, Irland, Deutschland, Skandinavien) zum Nachteil der Länder Süd- und Osteuropas (Italiener, Slawen, Juden) bevorzugte. Das Gesetz trat 1929 in Kraft und galt bis 1965.
Neben der Steuerung der Einwanderung anhand ethnischer Kriterien bestand das zweite große politische Aktionsfeld in der Steuerung der Reproduktion nach eugenischen Prinzipien. Hier gab es zwei Richtungen, die sich teilweise antagonistisch, teilweise kooperativ zueinander verhielten: Während die Vertreter der »positiven« Eugenik versuchten, die Fruchtbarkeit der »guten« Bevölkerungsanteile zu erhöhen, konzentrierten sich die der »negativen« Eugenik darauf, die Fruchtbarkeit der »schlechten« Bevölkerungsanteile zu reduzieren.
Der prominenteste Vertreter der »positiven« Eugenik war Präsident Roosevelt, der im März 1905 weiße Frauen, die verhüteten, als »Kriminelle gegen ihre Rasse« bezeichnete. In einem Brief an Charles Davenport, den Direktor des Eugenics Records Office genannten Instituts für Eugenik am Cold Spring Harbor Laboratory in New York, schrieb er: »Wir werden eines Tages feststellen, daß die erste und unausweichliche Pflicht eines aufrichtigen Bürgers der geeigneten Sorte darin besteht, sein oder deren Blut in der Welt zu hinterlassen, und daß wir nicht das Recht haben, die Fortpflanzung von Bürgern der falschen Sorte zuzulassen. Die Hauptaufgabe der Zivilisation ist es, die wertvollen Elemente in der Bevölkerung in größerem Maße zu vermehren als die weniger wertvollen oder schädlichen Elemente.«
Einwanderung nach ethnischen Kriterien
Gesetzgebungsinitiativen gab es aber nicht nur im Bereich der »positiven«, sondern auch in dem der »negativen« Eugenik. Hier sticht besonders der Fall Buck ./. Bell hervor, der 1927 vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten verhandelt wurde. Ab den 1890er Jahren hatten einige Bundesstaaten angefangen, Gesetze zur chirurgischen Sterilisation mittels Durchtrennung des Samen- oder Eileiters von Menschen mit angeblichen geistigen oder körperlichen genetischen Defekten einzuführen. Entsprechende Gesetze gab es in zwölf Bundesstaaten bis 1914. Der Biologe Harry H. Laughlin war Leiter des Eugenics Research Office in Cold Spring Harbor und ein führender Eugeniker. Frustriert angesichts der schwachen Implementierung der existierenden Sterilisationsgesetze und ihrer fehlenden Anwendung in weiteren Bundesstaaten, veröffentlichte Laughlin 1922 in seiner Studie Eugenical Sterilization in the United States ein Modellgesetz zur Sterilisation, das vorsah, die »Gene« des »wertlosesten Zehntels der Bevölkerung« innerhalb von zwei Generationen zu eliminieren. Dieses Modellgesetz bildete die Grundlage des 1924 eingeführten Gesetzes über die Eugenische Sterilisation im Bundesstaat Virginia. Im Rahmen einer von seinen Befürwortern organisierten Klage wurde es vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten am 2. Mai 1927 mit einer Mehrheit von acht zu eins für rechtens erklärt, womit die Sterilisation von Carrie Buck, »der schwachsinnigen Tochter einer schwachsinnigen Mutter und selbst Mutter eines schwachsinnigen Kindes«, freigegeben wurde. Der Richter am Obersten Gerichtshof Oliver Wendell Holmes Jr. schrieb, daß es bei einigen Menschen »besser wäre, sie wären nicht geboren«, und begründete sein Urteil mit der Feststellung, daß »drei Generationen von Schwachsinnigen wohl ausreichend« seien. In der Folge dieses Urteils, das bis zum heutigen Tag nicht revidiert worden ist, wurde die eugenische Sterilisation bis in die siebziger Jahre hinein an mehr als 60 000 Menschen in über dreißig Bundesstaaten durchgeführt.
Wurde der eugenische Gedanke in England formuliert und in den Vereinigten Staaten in die Gesellschaft und die Gesetzgebung hineingeführt, so wurde er im nationalsozialistischen Deutschland zur Staatsräson erklärt. Historisch läßt sich der amerikanische Einfluß auf die unheilvolle Entwicklung in Deutschland klar belegen. So behauptete Adolf Hitler, das Buch Der Untergang der Großen Rasse des frühen Umweltaktivisten und Mitbegründers der American Eugenics Society Madison Grant sei die »Bibel« für seine eugenische Politik in Deutschland. Insbesondere die Nürnberger Rassengesetze wurden von der amerikanischen Gesetzgebung stark beeinflußt.
Erblehre, Eugenik und Josef Mengele
Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Ernst Rüdin, der Leiter der Deutschen Forschungsanstalt (heute Max-Planck-Institut) für Psychiatrie und später kommissarischer Leiter des Instituts für Rassenhygiene, beide in München ansässig. Als zentrale Figur der »rassenhygienischen« Bestrebungen des »Dritten Reiches« war Rüdin Mitautor des amtlichen Kommentars des am 14. Juli 1933 erlassenen Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das unter anderem auf seinen »Erbprognosen« basierte.
Rüdin unterhielt engste Kontakte zur eugenischen Bewegung der Vereinigten Staaten. So schrieb er in Margaret Sangers Birth Control Review einen Artikel über den »dringenden Bedarf nach eugenischer Sterilisation« (»Eugenic Sterilization. An Urgent Need«), in dem er die freiwillige Sterilisation »geistig Behinderter« forderte und ein Propagandaprogramm vorschlug, um die allgemeine Akzeptanz der Sterilisation zu fördern. Diese Bestrebungen sollten langsam beginnen und sich zunächst auf Ärzte konzentrieren.
Der Einfluß der amerikanischen Eugenikbewegung auf die Entwicklung in Deutschland betraf aber nicht nur den geistigen Austausch, sondern erstreckte sich auch auf wirtschaftliche Unterstützung. So finanzierte die Rockefeller-Stiftung eugenische Bestrebungen über die Vereinigten Staaten hinaus auch in Deutschland. Ab 1930 erhielt das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem eine solche Finanzierung, die insbesondere 1932 bis 1935 der Zwillingsforschung von Otmar von Verschuer zugute kam, dem späteren Doktorvater von Josef Mengele und nach dem Zweiten Weltkrieg Professor für Humangenetik und Dekan der Medizinischen Fakultät an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Auch nach der Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze im September 1935 wurde diese Finanzierung fortgesetzt. Noch beim Weltbevölkerungskongreß im selben Jahr in Berlin wurden die eugenischen Bestrebungen der Nationalsozialisten von dem Arzt Clarence Gamble, Präsident der Pennsylvania Birth Control Federation und Erbe des Proctor‑&-Gamble-Vermögens, laut damaliger Berichterstattung im Magazin Time »in den wärmsten Tönen« empfohlen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Bestrebungen, die bis Ende der dreißiger Jahre weltweit hoffähig gewesen waren, von der breiten Öffentlichkeit nicht mehr toleriert. Man hätte erwarten können, daß das eugenische Projekt nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus aufgegeben und die eugenischen Organisationen aufgelöst würden. Doch das geschah nicht. Vielmehr haben die meisten dieser Organisationen in einem anderen Gewand fortexistiert. Auch wurden statt »Eugenik« Begriffe wie »Humangenetik« oder »Soziobiologie« verwendet, um die Spuren zu verwischen, ohne dabei aber das zentrale Anliegen wirklich aufzugeben.
Wie der Historiker Mike Perry schreibt, sind »wie in den Tagen von Mose und Pharao die Reichen und Mächtigen stets bestrebt, die Geburtenrate der Armen und sozial Aufmüpfigen zu drosseln«. Im Rahmen des »Rebrandings« der Eugenik wurden viele ihrer Kerngedanken in Gestalt der Geburtenkontrolle ideell und personell fortgeführt. In diesem Zusammenhang ist die Geschichte der bereits erwähnten amerikanischen Organisation Planned Parenthood, heute der mit Abstand größte Anbieter von Abtreibungen in den Vereinigten Staaten, von besonderer Bedeutung. 1921 wurde die American Birth Control League von einer »überzeugten Gruppe von Liberalen und Feministinnen unter Leitung von Margaret Sanger« gegründet. Diese Gruppe, die zur gesellschaftlichen Elite gehörte, hatte selbst wenige Kinder und war angesichts der hohen Geburtenraten in den ärmeren sozialen Schichten entsetzt. Wie oben beschrieben, wurden zur Lösung dieses Dilemmas zwei Alternativen vorgeschlagen: eine Erhöhung der Geburtenrate der Bessergestellten oder aber eine Senkung der Geburtenrate der Ärmeren. Margaret Sanger setzte sich für letztere Lösung ein. In ihrer Autobiographie schrieb sie: »Eugenik ohne Geburtenkontrolle war für mich ein Haus, das auf Sand gebaut ist. […] Die Eugeniker verstanden Geburtenkontrolle weniger als Verringerung der Geburtenrate der Armen und mehr als Erhöhung der Geburtenrate der Reichen. Wir haben diesen Gedanken erneut in Augenschein genommen und versucht, die Vermehrung der Ungeeigneten zu unterbinden.«
Ende der dreißiger Jahre zwang das gesellschaftliche Klima die Mehr-Geburten-für-die-Reichen- und die Weniger-Geburten-für-die-Armen-Fraktion, im Kampf um nachlassende finanzielle Zuwendungen von Stiftungen und reichen Spendern ihre Rivalität aufzugeben, weshalb sie 1938 zur Birth Control Federation of America fusionierten. In seiner Rede »Race Building in a Democracy« während einer Konferenz aus diesem Anlaß freute sich der Präsident der American Eugenics Society, Henry Pratt Fairchild, daß »diese beiden großen Bewegungen, Eugenik und Geburtenkontrolle, nun praktisch verschmolzen sind«. 1942 wurde auf Anraten des PR-Beraters Kenneth Rose der Begriff »Geburtenkontrolle« durch »geplante Elternschaft« ersetzt und die Organisation in Planned Parenthood Federation of America umbenannt. Trotz dieser kosmetischen Veränderungen blieb das eugenische Substrat der Organisation erhalten. So schrieb Margaret Sanger 1939, daß »dunkelhäutige Geistliche, am besten mit einem Hintergrund in der Sozialarbeit« für die Organisation eingesetzt werden sollten. »Wir wollen nicht bekanntmachen, daß wir die schwarze Bevölkerung eliminieren wollen, und der Geistliche ist derjenige, der diese Idee korrigieren kann, sollte sie einigen aufmüpfigen Mitgliedern einfallen.« Auch die Diskriminierung der Armen schimmerte weiterhin durch die liberale Oberfläche hindurch. So beschwerte sich der medizinische Direktor von Planned Parenthood 1965 beim US-Senat in Washington, daß die »Geburtenrate der weniger Betuchten bei 29 pro Tausend liegt und weiter ansteigt, während die Rate der Bessergestellten bei 16 pro Tausend liegt und fällt«.
Der eugenische Impuls in der Gegenwart
In Kassel gründete der Arzt Hans Harmsen zusammen mit Margaret Sanger und der Frauenärztin Anne-Marie Durand-Wever 1952, gleichsam als deutsche Niederlassung von Planned Parenthood, die Deutsche Gesellschaft für Ehe und Familie, die wenig später in Pro Familia unbenannt wurde. Wie Planned Parenthood in den Vereinigten Staaten ist Pro Familia in Deutschland bis heute der größte Anbieter von Abtreibungen. Bereits in den dreißiger Jahren gab Harmsen (übrigens 1924 ein Stipendiat der Rockefeller-Stiftung am Hygienischen Institut Berlin) sich als Rassenhygieniker zu erkennen. So sagte er 1931 auf einer evangelischen Fachkonferenz für Eugenik: »Dem Staat geben wir das Recht, Menschenleben zu vernichten – Verbrecher und im Kriege. Weshalb verwehren wir ihm das Recht zur Vernichtung der lästigen Existenzen?« Zudem war Harmsen als Leiter dieser Konferenz an den Beratungen über das oben erwähnte Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses beteiligt.
Die ethnisch und klassenbasierte Diskriminierung seitens der eugenischen Bewegung lebt also in den verschiedenen Programmen zur Geburtenkontrolle weltweit nur leicht versteckt fort. Diese werden heute ergänzt durch die zunehmende Akzeptanz von Maßnahmen zum Ausselektieren genetisch unerwünschter Menschen im Rahmen der vorgeburtlichen Gendiagnostik, die neuerdings Teil der kassenfinanzierten Regelversorgung ist. Neben dieser Selektion eröffnet auch die Gentechnologie neue Möglichkeiten, das Erbgut von Menschen gezielt und unmittelbar zu verändern. So wurde vor vier Jahren mittels der CRISPR/Cas9-»Genschere« die Erbsubstanz (und damit auch die Keimbahn) von drei Mädchen in China verändert, um sie resistenter gegen eine Infektion mit dem HI-Virus zu machen. Weltweit gilt ein Moratorium für diese Technologie, doch sie hat mächtige Befürworter. So sieht der Genetiker George Church, der »Vater des Humangenomprojekts«, CRISPR als »eine positive Entwicklung in der Welt«, die »umsichtig reguliert«, aber nicht »abgewürgt« werden sollte.
Der eugenische Impuls – das heißt der Versuch, die Geburtenrate der »Besseren« zu erhöhen und die der »Schlechteren« zu senken – setzt voraus, daß es erstens so etwas wie menschliche »Güteklassen« gibt und zweitens eine Gruppe von Menschen, die in der Lage und berechtigt wäre, ein Urteil darüber zu fällen, wer und nach welchen Kriterien in welche Gruppe gehört. Schließlich setzt der eugenische Impuls voraus, daß wir die Genetik und die anderen Faktoren der menschlichen Fortpflanzung ausreichend verstehen, um die Auswirkungen wie auch immer gearteter eugenischer Bestrebungen vorhersagen zu können. Diese Ideen sind nicht nur inhuman, sondern auch unwissenschaftlich und in ihrer Umsetzung zum Scheitern verurteilt. Wie die Idee von der Bevölkerungsreduktion basieren auch sie auf atavistischen Impulsen zur totalen Kontrolle der Masse durch einige wenige Auserwählte. Gerade in diesen unsicheren Tagen werden wir mit solchen Vorstellungen immer stärker konfrontiert. Im Sinne der Vorstellung, daß alle Menschen gleichberechtigt zur Menschheitsfamilie gehören, müssen wir uns dieser Vorstellungen mit aller Kraft erwehren. ◆
PAUL CULLEN
geb. 1960 in Dublin; Internist, Labormediziner, Molekularbiologe und Leiter eines medizinischen Labors in Münster. Vorsitzender des Vereins Ärzte für das Leben. In Cato 1/2022 wies er mit seinem Essay »Die Schildkröte und der Wolf im Schafspelz« die bösartige Idee von der Überbevölkerung der Erde zurück.