Nigel Biggar ruft in seiner Roger Scruton Vorlesung zu mehr akademischem Mut und zu uneingeschränkter Redefreiheit auf: »Wir müssen das Risiko eingehen, unsere vom Mainstream abweichenden Zweifel an der ›Entkolonialisierung‹ zu äußern und skeptische Fragen zu stellen«
Kriegsethik, Nationalismus, Kolonialismus: Nigel Biggar scheut kein noch so kontrovers diskutiertes und provokantes Thema. Mit seinem neuen Buch, Colonialism. A Moral Reckoning (»Kolonialismus. Eine moralische Abrechnung«), leistet er einen unschätzbaren Beitrag zur Aufarbeitung der britischen Kolonialgeschichte, und er widerlegt dabei manches hartnäckige Vorurteil. Bereits vor der Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse gab Biggar im Rahmen der Roger Scruton Memorial Lectures letzten Herbst im Sheldonian Theatre in Oxford vor einem aufmerksamen Publikum einen Vorgeschmack in Form einer Synthese seiner grundlegenden Ansichten.
Biggar behandelte den Kolonialismus als eines der umstrittensten Themen unserer Tage nicht gerade mit Samthandschuhen, sondern unterzog ihn einer genauen historischen Studie, die zahlreiche ungewohnte ethische und moralische Einsichten ermöglichte. Als Theologe hat Biggar dabei immer den größeren Rahmen im Blick und verliert sich nicht in historiographischen Spitzfindigkeiten. Auf der Grundlage seiner profunden Forschungsergebnisse lud er hier das Publikum ein, landläufige Meinungen zu überdenken und Vorurteile zu überprüfen.
»Zum Glück sind wir intellektuell
nicht in rassischen Silos gefangen«
Den Auftakt setzte er mit einer Begriffsdefinition, und er prangerte eine engstirnige und unangemessene Verwendung des Wortes »Dekolonisierung« durch diejenigen an, die von einem »Eurozentrismus« abrücken und statt dessen die Aufmerksamkeit auf kulturelle Formen und Normen nichteuropäischer Völker lenken wollen. Biggar wandte sich insbesondere gegen jene, die auf eine Umgestaltung der Universitäten drängen, »westliche Werte« durch Dekonstruktion zermürben und gleichzeitig »ethnische Vielfalt« von Professoren und Autoren durchsetzen möchten, ohne Rücksicht auf Niveauverluste. Universitätslehre solle nicht aufgrund von Herkunft und Hautfarbe des Autors ausgewählt werden, sondern aufgrund der Qualität des Inhalts – etwas, das eigentlich als Selbstverständlichkeit gelten sollte. »Zum Glück sind wir intellektuell nicht in rassischen Silos gefangen«, sagte Biggar augenzwinkernd.
Drei Annahmen der selbsternannten Kulturrevolutionäre galt es laut Biggar zu entkräften: die Behauptung, daß Großbritannien systemisch rassistisch sei, daß dieser Rassismus in seiner kolonialen Vergangenheit und der damit verbundenen Sklaverei wurzele und daß Rassismus sich in einer pauschalen Verunglimpfung der Kulturen nichtweißer Völker und der ungewollten Auferlegung der europäischen Kultur auf diese Völker manifestiere.
Die erste Annahme untersuchte Biggar anhand empirischer Fakten: Bei der letzten konservativen (!) Regierung unter Boris Johnson (2019–22) ergingen die politischen Ämter der wichtigsten Ressorts an Personen nahöstlicher, asiatischer oder afrikanischer Herkunft: Rishi Sunak, Schatzkanzler; Priti Patel, Innenministerin; Sajid Javid, Gesundheitsminister; Nadhim Zahawi, Bildungsminister; Kwasi Kwarteng, Wirtschaftsminister. Kemi Badenoch war damals noch Staatsministerin für Gleichstellungsfragen.
Auch im Bildungssektor zeigt sich ein klarer Widerspruch zu dem behaupteten Rassismus: »Laut den neuesten Zahlen liegt der Anteil der Schwarzen, Asiaten und ethnischen Minderheiten in England und Wales im Alter von 19 bis 25 Jahren bei etwas über 19 Prozent«, argumentierte Biggar. »Dennoch liegt der Anteil der nichtweißen Studenten an den britischen Universitäten bei fast 29 Prozent. Und selbst an der Eliteuniversität Oxford liegt dieser Anteil knapp unter 25 Prozent. Das heißt, der Anteil der nichtweißen Studenten übersteigt ihren Anteil an der entsprechenden Altersgruppe. Und das gilt schon seit mehreren Jahren. Außerdem sind 9,5 Prozent des nichtweißen akademischen Personals Professoren, nur 2,1 Prozent weniger als bei ihren weißen Kollegen.«
Auf die zweite Annahme ging Biggar mit seinen Ausführungen zum Thema der Sklaverei ein. Die Behauptung, der Rassismus sei in der kolonialen Vergangenheit verwurzelt, kann nicht die Tatsache erklären, daß das Britische Empire die erste Großmacht in der Weltgeschichte war, die »den Sklavenhandel und die Sklaverei im Namen der christlichen Überzeugung von der grundsätzlichen Gleichheit aller menschlichen Rassen vor Gott abschaffte«. Vor allem bei den Quäkern und anderen englischen Nonkonformisten wuchs die Anti-Sklaverei-Stimmung stark an und gipfelte in einem kräftigen Schub zur Abschaffung der Sklaverei.
Nigel Biggar:
Colonalism.
A Moral Reckoning,
London (William Collins) 2023,
geb., 480 Seiten, 28,99 Euro
Darüber hinaus setzte sich das Empire von 1807 bis in die 1960er Jahre für die Unterdrückung des Sklavenhandels und der entsprechenden Institutionen in der ganzen Welt ein. »In den 1820er und ’30er Jahren war die Abteilung für Sklavenhandel die größte Abteilung des Außenministeriums«, so Biggar.
»Zu einem Zeitpunkt in der Mitte des Jahrhunderts setzte die Royal Navy über 13 Prozent ihrer gesamten Arbeitskräfte für die Unterdrückung des Sklavenhandels zwischen Westafrika und Amerika ein. Dem Wirtschaftshistoriker David Eltis zufolge gaben die Briten in den siebenundvierzig Jahren von 1816 bis 1862 fast soviel für die Bekämpfung des atlantischen Sklavenhandels aus, wie sie in der gleichen Zeitspanne bis 1807 an Handelsgewinnen erzielt hatten.«
Historisch war dies das aufwendigste Beispiel »internationaler moralischer Maßnahmen in der modernen Geschichte«, um es mit den Worten der amerikanischen Wissenschaftler für internationale Beziehungen Chaim Kaufmann und Robert Pape zu sagen. Biggar schloß seine Ausführungen mit der Feststellung, daß nicht die »Sklaverei«, sondern »deren Bekämpfung« im Mittelpunkt der britischen imperialen Politik in der zweiten Hälfte ihres Bestehens gestanden habe. Die Sklaverei oder die »häßliche rassistische Verachtung der Eingeborenen« seien allenfalls marginal präsent gewesen, aber weder entscheidend noch zentral für die Bestrebungen des Empires.
Der dritten und letzten Annahme der revolutionären »Entkolonialisierungs«-Geschichte begegnete Biggar mit dem bestechenden Argument, daß menschliche Kulturen ständig im Fluß seien, daß sie unentwegt »voneinander lernen und leihen«. Sie seien – zum Glück! – nicht auf »rassische Silos beschränkt, die hermetisch voneinander abgeschlossen sind«.
Tatsächlich habe die den Westen prägende vorherrschende Realität – das Christentum – ihren Ursprung nicht in Europa, sondern im Nahen Osten. Die Akzeptanz dieser Religion war nicht auf die überzeugende Autorität der Kolonisatoren zurückzuführen, sondern lag im Wesen der Offenbarung selbst begründet, die von Natur aus für »afrikanische Flüchtlinge, Sklaven, Kinder, marginalisierte Erwachsene sowie Frauen und Jugendliche, die sich zum Beispiel von der Zwangsbeschneidung betroffen fühlten«, attraktiv war.
Eine »Spaltung der Kulturen […] gegen eine Vermischung kultureller Formen« und deren »Aneignung« tat Biggar als »unintelligent« ab. Die Vorstellung von »kultureller Aneignung« als einer Form des Diebstahls prangerte er als »absurd« an.
Die Erbauer des britischen Weltreichs waren weit davon entfernt, fremde Kulturen zu »verachten«, sondern waren vielmehr »oft von ihnen fasziniert«. Biggar nannte das Beispiel der monumentalen History of Persia aus der Feder John Malcolms, eines schottischen Bauernsohns, der mit der Madras-Armee der East India Company in See stach. Er war während seines Aufenthalts in Indien von Persien fasziniert, lernte Persisch (bzw. Farsi) und leitete drei diplomatische Missionen zum persischen Schah. Es ist bekannt, daß seine Geschichte mindestens dreimal von Goethe aus der Weimarer Staatsbibliothek ausgeliehen wurde (und heutzutage immer noch verlegt wird).
Biggar stellte klar: »Ich will damit nicht sagen, daß das Empire neben Elementen gutgläubiger Neugier und Bewunderung nicht auch Elemente kultureller Unterdrückung enthielt, die aus politischer Angst oder rassistischer Verachtung geboren waren. Ich denke hier an die Unterdrückung der gälischen Kultur in Irland und den schottischen Highlands. Nichtsdestotrotz muß dies – anders als die Rede von kulturellem ›Völkermord‹ – von einer gutgemeinten Politik der Assimilation der Einheimischen in die britische Kultur unterschieden werden.«
Schlußfolgernd faßt er zusammen: »Wenn das Volk einer Kultur auf eine andere trifft und diese zahlenmäßig und durch Militärmacht dominiert, gibt es nur drei Möglichkeiten: Das dominante Volk vernichtet das dominierte oder letzteres paßt sich an und assimiliert sich oder die beiden Völker bleiben voneinander getrennt. Entweder Auslöschung oder Assimilation oder Trennung. Die koloniale Besiedlung durch die Briten führte manchmal unbeabsichtigt zur Auslöschung eines einheimischen Volkes, wie im Fall der Beothuk in Neufundland. Die dritte Option, die Trennung, von der die südafrikanische Apartheid (auch ›Separatismus‹ genannt) eine Variante war, war nie britisch-imperiale Politik.«
Die britische Kolonialgeschichte und Kolonialpolitik lasse sich am besten mit »Assimilation« beschreiben, so Biggar, was in den bedeutenden Fällen Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika zutrifft. Doch kulturelle Assimilation bedeute Veränderung. Sie bedeute, daß man sich von potentiell überholten Praktiken und Normen verabschieden müsse. »Die Kolonisierung bedeutete die Abkehr von der Stammeskriegsführung. Die Krieger mußten einen neuen Weg lernen. Doch in den meisten Fällen mußte die Assimilation, die für das Überleben und Gedeihen in der neuen Zukunft ausreichen würde, nicht zwangsläufig mit einer völligen Abkehr von der Vergangenheit einhergehen.«
Biggar demontiert alle drei Annahmen sowie die Geschichtsfälschung, die mit ihnen einhergeht. Vor allem liege ihm die Zukunft Englands am Herzen und daß die junge Generation sich kein falsches schlechtes Gewissen einreden lasse. Verkehrte Schlußfolgerungen aus der Geschichte dürften zudem auch nicht britische Politik untergraben, warnte er.
Biggar schloß mit einem Appell zu mehr akademischem Mut und uneingeschränkter Redefreiheit. »Wir müssen das Risiko eingehen, unsere vom Mainstream abweichenden Zweifel an der ›Entkolonialisierung‹ zu äußern und skeptische Fragen zu stellen. Und wenn irgendein Professor […] Sie deswegen zusammenstaucht: Protestieren Sie und machen Sie von Ihrem Recht Gebrauch, Ansichten in Frage zu stellen. […] Und wenn Ihre eigene Hochschulleitung Sie nicht unterstützt, wenden Sie sich an die Free Speech Union«, riet er den Studenten.
Eine Ursache der Antikolonialhaltung, die vor allem von Briten gegen ihre eigenen Landsleute kolportiert wird, sieht Biggar in einer »degenerierten« selbstkritischen christlichen Haltung, die vor allem die eigene Unredlichkeit vor Augen hat. »Jede Tugend ist anfällig für das Laster. Denn sie kann aus echter Demut in ein perverses Streben nach höchster Selbstgerechtigkeit ausarten, das die eigenen Sünden übertreibt und Reue zur Schau stellt: heiliger als du, weil sündiger als du«, so Biggar in der Schlußfolgerung der inzwischen erschienenen Buchfassung.
Unbequeme Fragen zu stellen und ein Nichtübernehmen des Mainstreams machen genau den gesunden Skeptizismus aus, für den Roger Scruton plädierte, in dessen Namen diese Vorlesungen gehalten werden. Alle Akademiker und Konservativen sind aufgerufen, genau das zu tun, da sie sonst die Zerstörung der geerbten Werte riskieren. Es handelt sich um einen konstruktiven Skeptizismus, der letztendlich auf der Überzeugung beruht, daß die Wahrheit gesucht und verteidigt werden muß.
Biggar hat mit seinem Vortrag dieses Ziel nicht verfehlt, und das Publikum wurde sichtlich bereichert und ermutigt. ◆
JAN C. BENTZ,
geb. 1986 in Georgsmarienhütte, studierte in Rom Philosophie und promovierte über Gustav Siewerths Metaphysik. Er doziert am Studium der Dominikaner (Blackfriars) in Oxford. Seine Fachgebiete sind spekulative Philosophie, Metaphysik und die Philosophie Thomas von Aquins.