Seine eigene relative Irrelevanz im Ukrainekrieg sollte Deutschland nicht daran zweifeln lassen, auf welcher Seite es zu stehen hat

Daß das kleine Estland mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern nicht nur relativ zur jeweiligen Wirtschaftsleistung, sondern gar in absoluten Zahlen mehr Leistungen an die Ukraine erbracht hat als die größte Volkswirtschaft der EU, hinderte deutsche Friedensbewegte nicht, vor der vermeintlich drohenden Gefahr zu warnen, durch Waffenlieferungen an die Ukraine ungewollt zur Kriegspartei zu werden. Es folgten offene Briefe berühmter feministischer und altgrüner Personen des öffentlichen Lebens, aus denen der germanozentrische Wahn sprach, daß ausgerechnet deutsche Waffenlieferungen über den Ausgang dieses Kriegs entscheiden und daß die Russische Föderation ausgerechnet Deutschland, trotz seiner im internationalen Vergleich bescheidenen Lieferungen, den Krieg erklären könnte. Man sah sich, vielleicht gar nicht zu Unrecht, in besten deutschen Traditionen stehen. Doch die nun leider auch von Teilen der Rechten vielgepriesene SPD-Entspannungspolitik der siebziger Jahre, die unter dem Motto »Wandel durch Annäherung« stand (von Konservativen wie Gerhard Löwenthal seinerzeit als »Wandel durch Anbiederung« verspottet), war nicht nur ein deutscher Sonderweg, sondern zudem eine »Rußlandpolitik der Vorleistungen ohne Gegenleistung«, wie der Historiker Peter Hoeres unlängst in der FAZ treffend dargelegt hat.
Rechte Apologeten derartiger Vorschußlorbeeren berufen sich vorzugsweise auf die geopolitischen Interessen Deutschlands. Karlheinz Weißmann stellte allerdings schon vor rund dreißig Jahren fest, daß die geopolitische Lage eines Landes »abhängig von Impulsen« bleibe, »die erst durch die politische Entwicklung entstehen«. Deutschlands energiepolitische Abhängigkeit von Rußland, die seitens der Gegner von Waffenlieferungen immer wieder ins Feld geführt wird, ist keineswegs in Stein gemeißelt, sondern eine Momentaufnahme und konkrete Folge vornehmlich des Merkelschen Kernkraftausstiegs. Rußland hatte denn auch großes Interesse an einem grünen Deutschland ohne AKW; 82 Millionen Euro soll es in den vergangenen Jahren laut Informationen der Welt an europäische Klimaschutzverbände überwiesen haben. Offenbar sind die USA nicht die einzigen, die geopolitisch rücksichtlos vorgehen und im Ausland bestehende ethnische oder soziale Konflikte zu ihrem eigenen Vorteil gezielt verschärfen.
Eine Betrachtung internationaler Beziehungen ohne jedwede Geopolitik ist genauso realitätsfern wie die Verabsolutierung einer gegebenen geopolitischen Lage. Der Osteuropahistoriker Karl-Eckhard Hahn konstatierte 1994 in Die selbstbewußte Nation, daß die Geopolitik »in der alten Bundesrepublik Deutschland mit einem Tabu belegt« gewesen sei, da man seinerzeit politische Debatten »vorrangig unter dem Blickwinkel moralischer Bedürfnisse nach Hitler« betrachtet habe. Er hoffte zwar auf eine Vormachtstellung Deutschlands innerhalb Europas (und das bedeutete vor allem, gegenüber Frankreich), allerdings ausgerechnet durch einen starken deutschen Einsatz für die Interessen der ostmitteleuropäischen Staaten und vor allem durch Annahme des amerikanischen Angebots einer »partnership in leadership«. Und obwohl Hahn die Rückkehr zur Geopolitik für geboten hielt, war er sich dabei doch ihrer Grenzen deutlich bewußt, denn sie lebe »bis zu einem gewissen Grade im Spannungsfeld zwischen Wunsch und Wirklichkeit«.
Dem Ukrainekrieg und den damit verbundenen deutschen Handlungsoptionen mit einer rein geopolitischen Argumentation zu begegnen verkennt die Möglichkeit, durch bewußte »Impulse« die Interessenlage Deutschlands zu verändern. Nicht zuletzt verkennt eine solche Argumentation sowohl die jüngste als auch die ukrainische Frühgeschichte.
Daß George Soros’ Open Society Foundations den einen oder anderen Groschen in den Maidan, die Protestbewegung gegen die Aussetzung des EU-Assoziierungsabkommens durch die letzte prorussische Regierung der Ukraine, steckten, ändert nichts daran, daß diese Bewegung von breiten Bevölkerungsschichten getragen wurde und daß sie wirkte; und »Wirklichkeit ist das, was wirkt« (Botho Strauß). In sämtlichen geopolitischen Betrachtungen vernachlässigt wird auch das Budapester Memorandum von 1994, mit dem sich die Ukraine, bis dahin Atommacht, ihrer nuklearen Waffen entledigte, im Gegenzug für die, wie sich bereits 2014 herausstellte, wertlose Zusicherung Rußlands, die territoriale Integrität der Ukraine (einschließlich der Krim) zu achten. Mit Großraumdenken kommt man dieser Vertragsbrüchigkeit nicht bei, denn in besagtem Memorandum war von einer Neutralität oder gar »Entmilitarisierung« der Ukraine, wie die russische Regierung sie nun fordert, nirgends die Rede.
Das postsowjetische Rußland hat bereits hinreichend oft gezeigt, daß es nur genau so weit geht, wie es kann oder jedenfalls zu können glaubt, und von einer Atommacht konnte man schwerlich Gebietsabtritte und erst recht keine »Entmilitarisierung« einfordern. Man darf davon ausgehen, daß Rußland auch etwa im Baltikum oder gar in Polen so aufgetreten wäre wie nun in der Ukraine, wenn es dazu im Vorfeld des Nato-Beitritts dieser Staaten imstande gewesen wäre. Daher sind die Unkenrufe und Forderungen nach Deeskalation aus Deutschland realitätsfern – sie suggerieren, daß Aggression von seiten Rußlands nicht Folge von einer etwaigen Schwäche des jeweiligen Gegners ist, sondern im Gegenteil von dessen Stärke.
Die Osterweiterung wäre dabei die beste Gelegenheit für die Deutschen gewesen, wieder in die Geschichte zurückzukehren, statt die Augen vor ihr zu verschließen. Zu den geistigen Ereignissen, »mit denen sich Mitte der achtziger Jahre der Einsturz der Nachkriegsordnung ankündigte«, zählte Hahn mitunter die Mitteleuropadebatte. Der tschechische Romancier und Essayist Milan Kundera, einer ihrer Protagonisten, definierte 1983 in seinem Essay »Un Occident kidnappé oder Die Tragödie Zentraleuropas« die Zugehörigkeit zu Mitteleuropa als Einsicht in die Nichtselbstverständlichkeit, ja Bedrohtheit der Eigenstaatlichkeit. Nach dieser Definition gehört die Ukraine nun endgültig zu Mitteleuropa, falls sie nicht schon zuvor ein Teil von ihm war.
Daß es sich bei der Ukraine historisch um einen anderen Kulturraum, ja womöglich gar um einen anderen Erdteil als Rußland handelt, geht aus der hierzulande kaum beachteten russischen Frühgeschichte hervor. Die entscheidende Zeit ist die mit dem Fall des ersten, von Kiew dominierten ostslawischen Großreichs einsetzende Zeit der Goldenen Horde ab 1240. Denn von den zweieinhalb Jahrhunderten des »tatarisch-mongolischen Jochs« blieb beinahe das gesamte Gebiet der heutigen Ukraine weitgehend verschont, wurde es doch schon bald von Litauen erobert und blieb späterhin Teil der großen Polnisch-Litauischen Republik, bevor es schließlich schrittweise, bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, von den Moskowitern zurückerobert wurde. Die Ostgrenze dieser Ersten Polnischen Republik, der Blaupause für das Intermarium zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, lag weit östlicher als die der Zweiten Republik Piłsudskis, zu der unter den heutigen ukrainischen Gebieten nur Ostgalizien zählte.
Das Intermarium wäre eine weit weniger attraktive Vision geworden, wenn Deutschland sich zum Advokaten Mitteleuropas zu entwickeln bereit gewesen wäre (was allerdings auch bedeutet hätte, den dortigen gesellschaftlichen Konservatismus wenn nicht zu übernehmen, so doch wenigstens zu akzeptieren). Statt dessen fiel Deutschland diesem jungen Teil Europas in den Rücken und wurde zum nützlichen Idioten Moskaus. Es nimmt daher nicht wunder, daß man in Mitteleuropa grundsätzlich nicht allzu gut auf die Bundesrepublik zu sprechen ist, zeigte man sich hier doch allezeit weitgehend unbeeindruckt von der regelrechten Hetze in den russischen Stellungnahmen nicht nur gegenüber der Ukraine, sondern gegenüber sämtlichen Staaten des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs, nicht zuletzt den jahrhundertelang mit Deutschland verbundenen Balten. Dabei hätte die Diffamierung der Souveränität jener Staaten als NS-Projekt zumindest die deutsche Rechte mißtrauisch stimmen müssen.
Die von Deutschland gewählte Option der Schaukelpolitik wäre wenigstens nachvollziehbar gewesen, wenn sie keinen völligen Verrat an den unmittelbaren östlichen Nachbarn bedeutet hätte. Das ist allerdings spätestens der Fall, seit Rußland sich – ob das den notorischen Beschwörern eines vermeintlich »von Lissabon bis Wladiwostok« reichenden Europas nun gefällt oder nicht – vornehmlich durch seine Selbstüberschätzung in jene fragwürdige, von der Volksrepublik China angeführte Phalanx eingereiht hat. Daß Rußland etwaige minimale Gebietszugewinne in der Ukraine teuer zu stehen kommen werden, unterliegt angesichts der schon vor Kriegsbeginn von China an den Tag gelegten Aggression in Sibirien keinem Zweifel, denn die Chinesen haben, wie Marco Gallina festgehalten hat (vgl. Cato 4/2021), nicht vergessen, daß Wladiwostok einst ein chinesisches Fischerdorf war.
Der Ukrainekrieg ist dadurch jedenfalls zu einer Feuerprobe für die verbliebene Standhaftigkeit des Westens gegenüber seinen Gegnern geraten. Seine eigene relative Irrelevanz sollte Deutschland allerdings nicht daran zweifeln lassen, auf welcher Seite es zu stehen hat. Denn einen Vorgeschmack auf eine Weltordnung, die nicht mehr vom Westen dominiert wird, hat die Zeit der aus der Volksrepublik China übernommenen und von ihr gar aktiv beworbenen »Corona-Maßnahmen« gegeben. Ob diese Welt eine angenehmere wäre als die der amerikanischen Hegemonie, ist fraglich. ◆

ARTUR ABRAMOVYCH,
geb. 1996; Studium in Freiburg, Paris und Bamberg, Vorsitzender der Bundesvereinigung Juden in der AfD. Im Gerhard Hess Verlag erschien kürzlich sein Buch Entartete Espritjuden und heroische Zionisten.