Ausgabe No. 6 | 2024: Der Wahrheit auf der Spur
Als ein hoher Offizier im französischen Generalstab kurz vor der jüngsten Parlamentswahl von einem deutschen Historiker gefragt wird, ob er der Republik diene, antwortet er knapp: »Non, la France.« Es versteht sich von selbst, daß ein deutscher Offizier auf die Frage, ob er der Bundesrepublik Deutschland diene, niemals antworten würde: »Nein, dem Reich.« Daß der Deutsche so und nicht anders antwortet, liegt ursächlich an den nur allzu bekannten historischen Brüchen. Zwei verlorene Weltkriege in einem Jahrhundert und der Völkermord an den europäischen Juden machen es wohl nicht unmöglich, aber zweifellos außerordentlich schwer, die Zeitspanne vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bis in unsere Gegenwart als eine gesamtdeutsche Geschichte nicht nur anzuerkennen, sondern auch zu würdigen. Frankreich hat dieses nationale Identitätsproblem ganz offensichtlich nicht. Darum fällt es den Franzosen nicht schwer, auch nach der Französischen Revolution von 1789 und der Ermordung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 den von der katholischen Kirche 1297 heiliggesprochenen Ludwig IX. (der König starb am 25. August 1270 auf seinem Kreuzzug in Karthago) als keineswegs marginalen Teil ihrer Historie anzuerkennen. Darum ist es für den bis in die Haarspitzen antibonapartistisch fühlenden und handelnden François-René, vicomte de Chateaubriand (1768–1848) selbstverständlich, Napoleons militärische Siege der Glorie Frankreichs zuzurechnen. Nachdem beim napoleonischen Kunstraub die ersten Lieferungen aus den Niederlanden eingetroffen sind, darunter Michelangelos Brügger Madonna und der Genter Altar der Brüder van Eyck, tritt ein Leutnant vor die Nationalversammlung und meldet: »Im Herzen der freien Völker sollen diese Werke berühmter Männer Ruhe finden […] Nicht länger befinden sich diese unsterblichen Werke in fremdem Land; heute sind sie im Vaterland der Künste und des Genies, der Freiheit und Gleichheit, in der französischen Republik angekommen.« Der Offizier konnte das ruhigen Gewissens sagen, denn nach dem Selbstverständnis der Revolutionäre waren die Kunstwerke nicht geraubt, sondern aus ihrer Gefangenschaft in Palästen und Kirchen befreit worden. Diese Selbstglorifizierung Frankreichs ist bis heute ungebrochen. In Deutschland dagegen steht ein oft genug geradezu wollüstig zelebrierter Sündenstolz nach wie vor hoch im Kurs. Gegenwärtig sind es die Kolonien des Kaiserreichs und die ethnologischen Sammlungen im Berliner Schloß, für die uns eine Kollektivscham verordnet wird. Was hilft uns aus dieser Not? Vielleicht müßten wir Deutsche »wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen«, wie es Heinrich von Kleist in seiner essayistischen Erzählung Über das Marionettentheater empfiehlt. Doch das wäre, wie der Dichter der 1808 nach der preußischen Niederlage gegen Frankreich verfaßten Hermannsschlacht wohl zu Recht vermutet, tatsächlich »das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt«.
Ihr Ingo Langner
Die aktuelle Ausgabe No. 6 | 2024 erhalten Sie ab dem 12. Oktober am Kiosk oder direkt bei uns. Unterstützen Sie CATO mit Ihrem Abonnement! Folgen Sie uns auf Facebook und Twitter