30 Jahre deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag
Es ist dreißig Jahre her, daß Polen und Deutschland ihren »Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit« unterzeichnet haben. Er ist ein Rechtsakt, der bis heute unsere Beziehungen prägt und uns gewissermaßen ein friedliches Zusammenleben, ein freundschaftliches Miteinander zum Wohle der ganzen Menschheit befiehlt. Er ist auch ein Beispiel dafür, daß sich Jahrhunderte von Ressentiments, sogar Haß, zum gegenseitigen Vorteil in freundschaftliche Nachbarschaft verwandeln können.
Ich betone oft, daß Polen (neben den baltischen Staaten) das größte Opfer und der größte Verlierer des Zweiten Weltkriegs war. Obwohl Deutschland geplündert und geteilt wurde, wurde sein größerer Teil schnell zu einem wichtigen Element Westeuropas, mit der politischen (siehe Demokratie) und wirtschaftlichen (siehe Marshallplan) Unterstützung der Vereinigten Staaten.
Sechs Millionen Juden wurden ermordet, darunter drei Millionen polnische Bürger. Das war ein irreparabler Verlust und ein abscheuliches Verbrechen. Bald jedoch wurde der Staat Israel als eine Art Entschädigung für diese schreckliche Hekatombe gegründet. Ein blühender, freier jüdischer Staat, nach mehr als zwanzig Jahrhunderten der Nichtexistenz! Und was hat Polen, offiziell einer der Gewinner des Zweiten Weltkriegs, erhalten? Sechzig Jahre Versklavung durch den Sowjetkommunismus, was zu einer Degeneration des sozialen Gefüges, zu wirtschaftlicher Stagnation und zu militärischen Animositäten gegenüber dem Westen führte. Daher bereitet mir als Botschafter jedes Jahr die Frage ein Dilemma, ob ich das Ende des Zweiten Weltkriegs im großen Stil feiern soll. Denn er war am 8. Mai 1945 noch nicht ganz vorbei, wie eine 300 000 Mann starke, der Exilregierung unterstellte Partisanenarmee beweist. Tausende von ihnen sind danach im Kampf gefallen, der letzte Partisan – Sie werden es nicht glauben – im Jahre 1963! Daher ist es für Polen wichtiger, der Welt bewußt zu machen, daß der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 mit dem Angriff des nationalsozialistischen Deutschland auf Polen begann und nicht erst 1941 mit dem Angriff auf die Sowjetunion.
Dank der großartigen Kultur, auch der politischen – einer Kultur, in der das Christentum eine so wichtige Rolle spielt –, gelang es den polnischen und den sowjetischen Kommunisten nicht, die polnische Gesellschaft in eine gedankenlose Masse von Individuen zu verwandeln, die wahnsinnigen totalitären Ideen gehorcht hätte. Die legendäre polnische Freiheitsliebe führte zu mehreren Aufständen gegen das kommunistische Regime, deren Quintessenz die Geburt einer Massenwiderstandsbewegung war: der Solidarność. Die Solidarność hat sehr schnell eine Erklärung abgegeben, welche die kommunistischen Machthaber in Polen und der Sowjetunion empörte, eine Erklärung zum Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation, was auch das Recht einschloß, nach dem Willen der Bevölkerung in einem Staat zu leben. Dies wiederum legte den Grundstein für den Vertrag, dessen Jubiläum wir heute feiern.
Als ich den Vertrag vor einigen Tagen (auf Wunsch von Präsident Andrzej Duda) erneut studierte, kamen mir viele Schlußfolgerungen in den Sinn. Zum Beispiel, daß ein sehr wichtiges Motiv darin bestand, den Frieden zu sichern, einen zukünftigen Krieg zu verhindern. Am sichtbarsten war jedoch, daß Polen seine Zugehörigkeit zu Westeuropa, zum Erbe der mediterranen Kultur erklärte und die Bundesrepublik Deutschland ihren Willen bekundete, Polen auf dem Weg zu einem Zivilisationsaufschwung zu unterstützen, nachdem es sich von der Bevormundung durch die Sowjetunion befreit hatte. Dies wird in vielen Artikeln des Vertrags sehr deutlich.
Allerdings hat der Vertrag in vielerlei Hinsicht bereits an Aktualität verloren. Viele der darin angekündigten Prozesse sind heute abgeschlossen. Polen ist seit 1999 Mitglied der Nato. Als Botschaftsrat der Botschaft der Republik Polen in Bonn bin ich Tausende von Kilometern gereist, um die Bewohner auch kleinerer Ortschaften davon zu überzeugen, daß wir ein glaubwürdiges Mitglied dieser Organisation sein können, die einen dritten Weltkrieg verhindert hat.
Im Jahre 2004 traten wir mit erheblicher Unterstützung seitens der Bundesrepublik der Europäischen Union bei, was einen beispiellosen Zivilisationssprung bedeutete. Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten, die sich aus der Überrepräsentanz der Kommunisten im wirtschaftlichen und politischen Leben ergaben, hat Polen seine Chance genutzt. Besonders deutlich wird das jetzt, nach der sechsjährigen Amtszeit der aktuellen Regierung, da wir die niedrigste Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union und das höchste Wirtschaftswachstum haben (und das während einer Pandemie!)und Deutschlands fünftgrößter Wirtschaftspartner geworden sind. Wenn es um den Export aus Polen nach Deutschland geht, sieht es noch besser aus, denn wir stehen seit kurzem auf dem Siegertreppchen – neben China und den Niederlanden und noch vor den USA, Frankreich und Italien. Wer konnte sich das 1991 vorstellen? Ohne den deutsch-polnischen Vertrag wäre das nicht möglich gewesen.
Natürlich enthält der Vertrag auch Ziele, die noch nicht erreicht wurden. Es geht vor allem um die ausstehende Anerkennung der Deutschpolen als Minderheit, wie vor dem Krieg. Die »Göring-Dekrete« von 1940 hatten ihnen diesen Status entzogen und polnische Vereine und Verbände verboten. Tausende polnische Aktivisten wurden zum Tode verurteilt. Der deutsche Staat plünderte den gesamten Besitz polnischer Organisationen im Dritten Reich, hauptsächlich des Bundes der Polen in Deutschland. Und er tut sich bis heute sehr schwer damit, dem Bund wenigstens eines der fünf damals beschlagnahmten Häuser, das in Bochum steht, zurückzugeben. Dieses Haus soll zum Zentrum des polnischen Gemeinschaftslebens in dieser Region werden. Seit 2016, also seit meinem Antritt als polnischer Botschafter in Deutschland, wird darüber gestritten, wer es sanieren, in einem nutzbaren Zustand an den Bund der Polen in Deutschland zurückgeben und wieviel das kosten soll.
Ein weiterer Punkt, der unserer Meinung nach nicht umgesetzt wird, ist der Polnischunterricht für die Kinder der in Deutschland lebenden Polen. Lange Zeit herrschte die Überzeugung, daß das Erlernen der Muttersprache den Erwerb der deutschen Sprache und damit das Einleben in Deutschland erschwere. Erst kürzlich wurde dieses Denken überwunden, da Brandenburgs Ministerpräsident Dr. Woidke als einer der ersten deutlich machte, daß die Beherrschung zweier Sprachen dem Bürger eine zusätzliche berufliche und kulturelle Qualifikation verleiht.
Dennoch versteht man in Deutschland den Unterschied zwischen dem systemischen, das heißt schulischen, und dem nichtsystemischen, das heißt außerschulischen Unterricht der polnischen Sprache, Geschichte und Kultur nicht. Er geht aber ganz klar aus dem Vertrag hervor. Die deutschen Behörden versuchen den Polnischunterricht in der EU-Kategorie einer »Herkunftssprache« zu verorten, während der deutsch-polnische Vertrag weiter geht: Er gewährt das Recht, Polnisch (und Deutsch) als »Muttersprache« zu erlernen. Es ist viel einfacher, den Kindern unter den fast zwei Millionen Polen in Deutschland einen solchen Unterricht im Rahmen der außerschulischen Bildung zu gewährleisten.
Seit fünf Jahren versuche ich die Beamten des Bundesinnenministeriums auf diesen Unterschied aufmerksam zu machen. Schulen in freier Trägerschaft vegetieren derweil vor sich hin, darunter auch katholische, und verlieren Schüler und Lehrer. Polen hält die Bestimmungen des Vertrags über die Finanzierung des Deutschunterrichts für die deutsche Minderheit in Polen ein. So gibt das ärmere Land – also Polen – jährlich 50 Millionen Euro für die nicht allzu zahlreichen niederschlesischen Deutschen aus, während das reichere Deutschland keinen Weg findet, die Sprachausbildung der in Deutschland lebenden Polen mit den (übrigens erst in diesem Jahr vorgeschlagenen) 5 Millionen Euro zu unterstützen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr das nicht nur die polnische Minderheit in Deutschland, sondern auch die polnische Gesellschaft irritiert.
Ich hoffe, daß diese beiden Fragen – die Finanzierung des außerschulischen Polnischunterrichts und die Rückgabe auch nur eines Teils des Vorkriegsbesitzes an die Organisationen der in Deutschland lebenden Polen – nach der Bundestagswahl endgültig gelöst werden. Bis vor kurzem wurde in Polen darüber diskutiert, ob wir nach dreißig Jahren nicht einen neuen Vertrag abschließen sollten, in Anlehnung an denjenigen, der zwischen Frankreich und Deutschland kürzlich in Aachen unterzeichnet wurde. Die Meinungen dazu sind geteilt, aber angesichts der in Europa abgelaufenen Prozesse und der Veränderungen in Polen und Deutschland scheint dies nicht zielführend zu sein. Vielmehr gilt es eine würdige Lösung der kleinen Probleme herbeizuführen, die aus polnischer Sicht die ansonsten eindeutig positive Bewertung des Vertrags stören.
Kürzlich habe ich Medienberichten entnommen, daß das Land Brandenburg seine Verfassung ändern will, um die Freundschaft zu Polen darin zu verankern. Ich muß zugeben, daß mich das zutiefst berührt hat, denn es ist ein perfektes Signal auch für die anderen Bundesländer, nicht nur für jene, die an mein Land grenzen. Ich muß jedoch hinzufügen, daß die Freundschaftserklärung eine enorme Verpflichtung darstellt. Denn von Freunden wird mehr verlangt als von gewöhnlichen Bekannten oder Nachbarn. Freundschaft erfordert zum Beispiel einen tieferen Einblick in das, was bei einem Freund wirklich vor sich geht. Und das bedeutet, die antipolnischen Narrative zu überwinden – ich nenne sie bewußt »antipolnisch« und nicht »regierungsfeindlich« –, die in den deutschen Medien zum Thema Polen vorherrschen. Polen hat derzeit die beste Regierung seit dreißig Jahren, eine Regierung, die endlich die Ideale der Solidarność-Bewegung umsetzt. Deshalb hat sie auch die letzten Wahlen gewonnen. Die Erfolge dieser Regierung in den Bereichen Wirtschaft, Sicherheit, Bildung und Kultur sind unbestritten. Um diese Regierung zu unterstützen, habe ich für fünf Jahre meine akademische Laufbahn unterbrochen und bin erneut in den diplomatischen Dienst eingetreten. Und als einer, der in Deutschland insgesamt siebzehn Jahre verbracht hat, muß ich täglich mit Entsetzen erfahren, was das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen, die öffentlich finanzierten Rundfunkanstalten und führende deutsche Zeitungen über Polen berichten, indem sie es als ein nahezu totalitäres Land, ein Land der Gesetzlosigkeit und einer untergehenden Demokratie darstellen. Weit entfernt von jeder Wahrhaftigkeit. Diesbezüglich sage ich oft: Fünf deutsche Korrespondenten in Warschau ruinieren dreißig Jahre deutsch-polnischer Versöhnung und Verständigung. Glauben Sie mir, das stimmt!
Womit wir es in Polen wirklich zu tun haben, ist ein Verrat der postkommunistischen Eliten einschließlich einer Rebellion von Richtern, die die Ideale ihres Berufes aufgegeben haben. Die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, die in Deutschland beinahe verehrt und oft hierher eingeladen wird, sagte kürzlich in einem im Ausland gegebenen Interview, daß sie keinen Unterschied zwischen Polen und Belarus sehe. Es gibt keine größere Absurdität. Aber niemand hat darauf reagiert. Vor einer Woche fand im Auswärtigen Amt die jährliche Botschafterkonferenz statt. Ein Gast dieser Konferenz war die norwegische Außenministerin. In ihrer Rede erklärte sie, ihr Land habe gerade einigen Regionen Polens den Zugang zu den sogenannten norwegischen Fonds verwehrt, weil sich diese Regionen zu LGBT-freien Zonen erklärt hätten. Dies sagte sie im Beisein von rund 150 deutschen Botschaftern aus aller Welt. Dabei sind das offensichtlich Fake News, erfundene Lügen, die bereits vor längerer Zeit als solche entlarvt wurden: Ein linker Aktivist hatte nämlich verschiedene Gemeinden besucht, die sich für den Schutz von Familien und Kindern vor aufdringlicher Sexualisierung aussprachen. Er hatte vorgefertigte Schilder mit der Aufschrift »LGBT-freie Zone« mitgebracht, sie an den Ortsschildern befestigt, sie fotografiert und die Fotos an das Europäische Parlament und an westliche Zeitungen geschickt.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir leben in einer eigentümlichen Zeit, im Zeitalter der sogenannten Postmoderne – einer Zeit, in der Narrative und damit auch Fake News oft die Wahrheit ersetzen. Sie ersetzen die Wahrheit, weil wir nicht nach ihr suchen wollen. Wir haben keine Zeit, wir haben keine Lust, so sehr interessiert sie uns nicht. Die postmoderne Ideologie weist übrigens Wahrheit als Wert gänzlich zurück. Dem sollten wir uns entschlossen widersetzen. Auch um zu verstehen, was in Polen wirklich geschieht und wie sich das auf die deutsch-polnischen Beziehungen auswirkt. Zum 30. Jahrestag des deutsch-polnischen Vertrags möchte ich meinen Wunsch zum Ausdruck bringen, daß in Deutschland ein echtes Interesse an Polen entstehen möge: an der polnischen Kultur, der polnischen Lebensart und dem polnischen Wertesystem. Ein ähnliches Interesse wie jenes an Frankreich. Zusammen bilden wir ja das Weimarer Dreieck – das Gerüst Europas! Polen hat eine über tausendjährige Geschichte, eine Geschichte voller einzigartiger Errungenschaften und interessanter Institutionen. Und es möchte Europa seine bewährten Werte anbieten und nicht immer nur gezwungen werden, auferlegte Lösungen zu übernehmen. Wir müssen gemeinsam um ein solches Europa kämpfen, denn nur ein solches Europa hat eine Chance zu überleben!
Diese im Landtag zu Brandenburg am 17. Juni 2021 gehaltene Rede löste in der anschließenden Debatte natürlich heftigen Widerspruch von Abgeordneten der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke aus.
ANDRZEJ PRZYLEBSKI
geb. 1958 in Chmielnik (Polen), Botschafter der Republik Polen in Deutschland. Der Diplomat steht als Philosoph und Hegel-Experte tief in der Tradition der deutschen Geistesgeschichte. Ein Interview mit ihm erschien in Cato 2/2020.