Auch Imperien haben ein Verfallsdatum. Das zeigt uns die Weltgeschichte. Babylon war endlich, und die Reiche der Römer, Spanier, Briten waren es auch. Heute stellt sich die Frage, ob und wann die Macht über den Welthandel und die wichtigsten globalen politischen Einflußzonen von den Vereinigten Staaten an China übergeht.
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Von Konfuzius lernen heißt siegen lernen: Der chinesische Meisterdenker grüßt in seinem Tempel in Schanghai aus der Vergangenheit ins Heute und Morgen.
Im vergangenen Mai befaßte sich Roger Köppel, Chefredakteur der Weltwoche, mit dem Krieg in der Ukraine, sprach von »einer großen Teilschuld« der USA und warnte vor einem Krieg zwischen den Großmächten USA und China. Der wäre, so zitierte er Henry Kissinger, schlimmer als der Erste Weltkrieg. Dann erinnerte sich Köppel an ein vier Jahre zurückliegendes Gespräch mit einem führenden amerikanischen Politiker, dessen Namen er nicht nennen wollte. Der Amerikaner bezeichnete China als einen Todfeind der USA. »Als ich ihn nach den Gründen fragte«, so Köppel, »kam eine interessante Antwort. Er sagte, die Chinesen seien deshalb für die Amerikaner eine Bedrohung, weil sie durch ihre Tüchtigkeit, ihre Intelligenz und ihren Fleiß die Amerikaner überflügeln, schlagen würden in ihrer ureigenen Domäne: dem Wettbewerb.«
Geschichte, so scheint es, kann sich wiederholen. Aus dem Jahr 1910 ist ein Gespräch überliefert, das Lord Balfour, der Parteichef der Konservativen, mit dem Ersten Sekretär der amerikanischen Botschaft in London Henry White führte. Balfour sagte: »Wir sind wahrscheinlich töricht, daß wir keinen Grund finden, um Deutschland den Krieg zu erklären, ehe es zu viele Schiffe baut und uns unseren Handel wegnimmt.« White entrüstete sich, wie Balfour etwas so Unmoralisches erwägen könne, und empfahl dem Briten: »Wenn Sie mit dem deutschen Handel konkurrieren wollen, so arbeiten sie härter!« Balfour antwortete: »Das würde bedeuten, daß wir unseren Lebensstandard senken müßten. Vielleicht wäre ein Krieg einfacher für uns […] Ist es eine Frage von Recht und Unrecht? Vielleicht ist es nur eine Frage der Erhaltung unserer Vorherrschaft.«
Vier Jahre später wurde der Kriegsgrund, den Lord Balfour gesucht hatte, gefunden. Nachdem das britische Kabinett noch am 29. Juli 1914 einen Kriegseintritt abgelehnt hatte, konnte sich die Kriegspartei um Außenminister Edward Grey und den Ersten Lord der Admiralität Winston Churchill am Abend des 2. August doch noch durchsetzen – obwohl 1914 keine gravierenden Differenzen zwischen Berlin und London bestanden, obwohl die Flottenrivalität in den Hintergrund getreten war, obwohl die Londoner Hochfinanz auf Frieden setzte. Damals verfolgte das deutsche Kaiserreich, anders als seine drei Gegner, keine Ziele, die nur durch Krieg zu erreichen waren. Denn die Zeit arbeitete für das Reich. Heute arbeitet sie für die Volksrepublik China.
Unbegründet waren die Ängste, die Lord Balfour umtrieben, nicht. In einer schwindelerregenden Aufholjagd hatte die verspätete Nation in der Mitte Europas die führende Weltmacht wirtschaftlich eingeholt und überholt. 1913 produzierte das Deutsche Reich mehr Stahl als das Vereinigte Königreich, Rußland und Frankreich zusammengenommen – und Stahl war damals unbestritten der Indikator industrieller Stärke und damit militärischen Potentials. Dazu paßte der jeweilige Anteil an der Weltindustrieproduktion. Derjenige Deutschlands erhöhte sich im Zeitraum 1880–1913 von 8,5 auf 14,8 Prozent, der britische sank von 22,9 auf 13,6 Prozent. 1914 produzierten Bayer und Hoechst 90 Prozent der industriellen Farbstoffe der Welt. Siemens und AEG dominierten die europäische Elektroindustrie. Und gemessen an den Exporten und der Tonnage der Handelsmarine hatte das Kaiserreich 1913 das britische Niveau nicht ganz, aber fast erreicht.
Der deutsche Aufstieg vor 1914 war im europäischen Vergleich beispiellos, der chinesische ist es im globalen. Noch vor vier Jahrzehnten war das Reich der Mitte weltwirtschaftlich bedeutungslos. Heute produziert es fast dreimal so viele Fahrzeuge wie die USA, mehr als zehnmal soviel Stahl und vierzigmal soviel Aluminium. 2022 wurden auf der Welt eine halbe Million Roboter installiert, die Hälfte davon in China. Auch relativ zur Zahl der Beschäftigten stehen in China mehr Roboter als in den USA. China exportierte 2021 Waren im Wert von 3,36 Billionen Dollar, die USA im Wert von 1,75 Billionen. Nicht nominal, aber kaufkraftbereinigt hat die chinesische Wirtschaftsleistung die der USA bereits überholt. China ist Werkbank und industrielles Kraftzentrum der Welt. Die Preise von Kupfer, Eisenerz, seltenen Erden und vielen anderen Rohstoffen steigen und fallen mit der chinesischen Konjunktur und Nachfrage. Nicht militärisch, aber wirtschaftlich sind die USA mit Ausnahme weniger Branchen bereits abgehängt.
Und doch steckt in der Erzählung Köppels und der als skandalös empfundenen Logik des Lord Balfour nur die halbe Wahrheit. Geopolitik auf wirtschaftliche Rivalität zu reduzieren greift zu kurz. So läßt sich Weltgeschichte nicht verstehen. Der deutsche Historiker Gerhard Ritter sprach einmal vom »wesenhaft kämpferischen Charakter politischer Macht«. Völker formieren sich zu großen Staaten, konsolidieren und expandieren ihre Macht, dringen in fremde Gebiete vor, verteidigen ihre Position gegen Herausforderer oder verlieren sie wieder.
Im spanischen Imperium ging die Sonne nicht unter, England unterwarf Territorien mit einer Fläche wie keine Großmacht zuvor und danach, die Reiche der alten Ägypter und Perser sind nur noch eine verblaßte historische Erinnerung. In der Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs der Kulturen bildet China die unvergleichliche Ausnahme: Um 1800 größte Volkswirtschaft der Welt und ein staatlicher Machtbereich im Zenit seiner geographischen Ausdehnung, der Tibet, Taiwan, die Äußere Mongolei, Teile Zentralasiens und des heute russischen Sibiriens umfaßte; eine alte Kultur, die im 19. Jahrhundert zur Beute der westlichen Kolonialmächte wurde; dann, in den Jahren nach der Abdankung des letzten Kaisers 1912, das Scheitern der von Sun Yat‑sen ausgerufenen Republik, die Herrschaft der Warlords, die Japanische Invasion, der Bürgerkrieg, die Machtergreifung der Kommunisten 1949, die bittere Armut und der wahnhafte Terror unter Mao Tse‑tung bis 1976. Und jetzt das für die westliche Welt verstörende Comeback, eine Rückkehr zu alter Größe und die neue Rede von einem kommenden Krieg.
Für die sich in den USA ausbreitende Stimmung steht ein Memorandum, das Mike Minihan, Viersternegeneral der US Air Force, im vergangenen Januar an seine Offiziere schickte. Er wies sie an, sich auf einen Krieg mit China vorzubereiten: »Ich hoffe, ich irre mich. Mein Bauchgefühl sagt mir, daß wir 2025 kämpfen werden.« In Australien, das nahtlos in die pazifische Militärstrategie Amerikas eingegliedert ist, wird das ähnlich gesehen. Erst im vergangenen Winter warnte der frühere australische Ministerpräsident Kevin Rudd, ein ausgewiesener China-Kenner, vor einem kommenden Krieg. Bis dahin könnten aber noch sechs Jahre vergehen. Von einer Frist von nur drei Jahren sprach der australische Militärexperte und frühere Regierungsberater Peter Jennings. Darauf werde eine lange Nachkriegsphase folgen, »in der eine neue internationale Ordnung zutage tritt«.
Als Donald Trump Präsident war, konnte Emmanuel Macron noch behaupten, die Nato sei »hirntot«. Jetzt bietet der Krieg in der Ukraine Washington die Chance, einen amerikanisch-europäischen Block zu zementieren, der nicht nur gegen Rußland, sondern auch gegen China in Stellung gebracht werden kann. Die Nato und damit auch die Deutschen sollen in den Endkampf der zwei Weltmächte involviert werden – ein Dilemma für die Bundesregierung in Berlin, die uneinig und unsicher ist, wo in diesem »definierenden Konflikt des 21. Jahrhunderts« (NZZ) die deutschen Interessen liegen. Einer, der beflissen an die Front drängt, ist Josep Borrell, seit Ende 2019 Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der Kommission von der Leyen.
Bar eigener Machtmittel und mit einem Minimum an Befugnissen versucht er die Rolle eines europäischen Außenministers zu spielen. Im April rief er die europäischen Seestreitkräfte auf, in der Straße von Taiwan zu patrouillieren. Der Nordatlantik als Nato-Vertragsgebiet ist ihm nicht mehr genug.
Ist der kleinere Krieg am Schwarzen Meer nur das Vorspiel zu einem größeren im Pazifik? Wie in Washington gedacht wird, verriet der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am 18. Dezember 2022 der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: »Alle haben ein starkes Interesse an einer stabilen Ukraine – auch als Bollwerk gegen ein immer aggressiveres Rußland. Damit würden dann Ressourcen frei, um sich dem eigentlichen Problem zuzuwenden – China.« Im Sommer 2023 sind die Ressourcen noch nicht frei, eine Waffenruhe am Dnjepr läßt auf sich warten, der Stellvertreterkrieg belastet die Rüstungskapazitäten der Nato bis an ihre Grenzen.
Aufschlußreich ist gleichwohl die Problemverknüpfung. Könnte es sein, daß Taiwan eine ähnliche Funktion als Hebel und Kristallisationspunkt zugedacht ist wie der unglücklichen Ukraine? Immerhin war Formosa, wie es die Portugiesen nannten, zwei Jahrhunderte lang Teil des chinesischen Kaiserreichs, bis es 1895 an Japan abgetreten werden mußte. Das heutige Rußland läßt sich bis zum Herrschaftsverband der mittelalterlichen Kiewer Rus zurückführen – daher das Narrativ, daß der russische Staat in Kiew gegründet wurde. Die Strategen in Washington wissen, wie sich auf dem Schachbrett der Machtpolitik mit Hilfe eines kleineren Nachbarn der große bis aufs Blut reizen läßt.
2017 veröffentlichte der langjährige Pentagon-Berater und Harvard-Professor Graham Allison ein Buch, das Aufsehen erregte: Destined for War. Can America and China Escape Thucydides’s Trap? (»Für den Krieg bestimmt. Können Amerika und China der Thukydides-Falle entkommen?«). Auf 364 Seiten gelangte Allison zu der Schlußfolgerung, daß der Krieg zwar nicht unvermeidbar, aber doch wahrscheinlich sei. Die Formel, die das sich wiederholende Muster von Großmachtkonflikten erklärt, fand er in der Geschichte des Peloponnesischen Krieges des Historikers Thukydides: »Der Aufstieg Athens und die Angst, die er in Sparta auslöste, machte den Krieg unvermeidlich.« Thukydides, geboren um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr., General und Bürger Athens, schrieb im Vorwort: »Wenn meine Geschichte von denen als nützlich beurteilt wird, die eine genaue Kenntnis der Vergangenheit wünschen, um die Zukunft verstehen zu können, werde ich zufrieden sein.« Der Leser sollte begreifen, warum Athen und das mächtigere Sparta jahrzehntelang friedlich zusammengelebt hatten und dann doch in einen Krieg gerieten, der für beide katastrophale Folgen zeitigte. Zu anderen Kriegen zwischen einer führenden und einer aufsteigenden Macht zählte Allison jenen zwischen Frankreich und Habsburg in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, den zwischen den Vereinigten Niederlanden und England im 17. Jahrhundert, jenen zwischen England und Frankreich vor und nach 1800, die beiden Weltkriege zwischen dem Aufsteiger Deutschland und den Alliierten sowie den Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und dem Herausforderer Japan.
Vergleichbare Großmachtrivalitäten, die nicht in einem Krieg endeten, konnte Allison auch anführen: Portugal und Spanien teilten sich die Welt dank Vermittlung des Papstes, England fand sich schließlich mit dem Aufstieg seiner früheren Kolonie ab, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion standen 1962 am Rand eines Atomkriegs, lösten ihren Konflikt dann jedoch. Auch die amerikanisch-chinesische Konfrontation könnte beherrschbar bleiben, wenn Washington dem Gegenspieler nach dem Vorbild der Monroe-Doktrin seine historischen Einflußzonen im Ost- und Südchinesischen Meer überlassen und, um es mit Carl Schmitt zu sagen, ein Interventionsverbot für raumfremde Mächte respektieren würde. In seiner Rede zur Lage der Nation am 2. Dezember 1823 hatte Präsident James Monroe verkündet, die Vereinigten Staaten würden sich aus europäischen Konflikten heraushalten, jedoch eingreifen, falls die Europäer nach ihren früheren Kolonien in Lateinamerika griffen. Monroe sprach von zwei »Sphären«, die dem Prinzip der Nichteinmischung unterliegen sollten. Im 19. Jahrhundert hätten die militärisch noch schwachen Vereinigten Staaten ihre Doktrin im Ernstfall kaum durchsetzen können. 1917 brachen sie mit der Kriegserklärung an das deutsche Kaiserreich den europäischen Teil ihres Versprechens.
Ist eine Neuauflage der Monroe-Doktrin vorstellbar, diesmal bezogen auf beide Seiten des Pazifiks? Grundsätzlich schon. Auch in den USA melden sich Stimmen, die den chinesischen Standpunkt zu verstehen versuchen und dem parteiübergreifenden antichinesischen Konsens in Washington widersprechen. So Jessica Chen Weiss in der September/Oktober-Ausgabe 2022 von Foreign Affairs, dem Organ des Council on Foreign Relations. Weiss diente bis Juli 2022 im Planungsstab des amerikanischen Außenministeriums. Die USA, schrieb sie, suchten ihre Vorherrschaft und ein internationales System zu verewigen, das ihre Interessen und Werte privilegiert. Auf beiden Seiten des Pazifiks wachse der Fatalismus, daß eine Krise und schließlich ein katastrophaler Konflikt unvermeidbar und vielleicht notwendig seien. Washington müsse ein reformiertes internationales System anstreben, das China einschließt. Weiss’ Empfehlung läuft darauf hinaus, das Reich der Mitte nicht einzudämmen, sondern ihm Spielraum zu lassen, ohne wohlverstandene amerikanische Interessen zu opfern.
Präzedenzlos wäre ein solcher Politikwechsel nicht, schließlich waren die USA in bezug auf ihre Allianzen und Antagonismen schon immer flexibel. Im Zweiten Weltkrieg standen sie in Asien an der Seite Chinas gegen Japan und in Europa an der Seite der Sowjetunion gegen Deutschland. Im Nachkrieg wurden die Gegner zu Verbündeten und die Verbündeten zu Gegnern. Es ist nur ein gutes Jahrzehnt her, daß der Historiker Niall Ferguson den Begriff »Chimerica« popularisierte, eine Art Symbiose, von der beide Partner profitieren würden. Deng Xiaoping hatte mit seinen Reformen seit den achtziger Jahren ein phänomenales Wirtschaftswachstum ermöglicht, die westlichen Konzerne entdeckten einen riesigen Absatzmarkt und konnten zugleich massenhaft und billig in China produzieren, um im Rest der Welt teuer zu verkaufen. Selbst die wachsenden amerikanischen Defizite im Handel mit China hatten ihre guten Seiten: Realwirtschaftlich gesehen war es ein Gütertransfer zugunsten Amerikas, der mit frischgedruckten Dollar bezahlt wurde, die Peking wiederum in amerikanische Staatsanleihen investierte. Der Gläubiger China finanzierte Amerika und damit zugleich seine Kriege, die nach dem 11. September 2001 in Washington für notwendig erachtet wurden.
Ohne die Unterstützung Washingtons hätte Peking nicht 2001 Mitglied der Welthandelsorganisation werden können. Die Feststellung, daß die USA den wirtschaftlichen und damit auch den militärischen Aufstieg des späteren Gegners begleitet und gefördert haben, ist keine Übertreibung. Zu großen Teilen war die Globalisierung der letzten Jahrzehnte mit ihrem expandierenden Welthandel, der Internationalisierung der Lieferketten und den dank billiger Produktion niedrigen Inflationsraten ein chinesisches Phänomen. Während die chinesische und die deutsche Exportwirtschaft prosperierten, verloren die USA Arbeitsplätze in der Industrie. Das wurde lange Zeit hingenommen, bis Donald Trump umsteuerte, in den Handel eingriff und beklagte, die Amerikaner würden von den Chinesen »vergewaltigt«.
Fast vergessen ist, daß am Beginn der chinesischen Renaissance ein abrupter Kurswechsel der amerikanischen Geopolitik stand. Nach einem monatelangen Schriftwechsel ohne Briefkopf und Unterschriften, der von Boten zwischen den Regierungen in Washington und Peking hin und her befördert wurde, reiste Henry Kissinger im Auftrag von Präsident Richard Nixon am 9. Juli 1971 in die chinesische Hauptstadt. Drei Tage vorher hatte Nixon in Kansas City/Missouri eine Rede gehalten, in der er die Vision einer Weltordnung entwickelte, die auf einem Machtgleichgewicht zwischen den Großmächten beruhen sollte. Die Rede kam in Peking gut an. Im Gespräch mit Kissinger zitierte Ministerpräsident Zhou Enlai Mao: »Es herrscht große Unordnung unter dem Himmel, die Lage ist ausgezeichnet.«
Der freundliche Empfang, der Kissinger und danach Nixon bereitet wurde, erklärte sich nicht zuletzt aus den vierzig sowjetischen Panzerdivisionen, die an der Grenze zur Mandschurei und Xinjiang stationiert waren und von denen sich Peking bedroht fühlte. Die Zeiten der russisch-chinesischen Bruderschaft waren längst vorbei. Die neue Zusammenarbeit mit dem Reich der Mitte, nur zwei Jahrzehnte nach dem Krieg in Korea, sollte das Wesen des Kalten Krieges nachhaltig verändern, schrieb Henry Kissinger in seinem 2022 erschienenen Buch Staatskunst. Kissingers Absicht war es, das Volk der Han-Chinesen gegen die Russen auszuspielen. Eine wertegeleitete Außenpolitik war seine Sache nicht. Kissinger, ein amerikanischer Bismarck, war und blieb der Idealtypus des Realpolitikers. Nixon und Mao einigten sich denn auch auf eine Formel, die in den Worten Kissingers fünfzig Jahre lang »der beherrschende Grundsatz der Beziehungen zwischen den USA und China« geblieben ist: »Die Vereinigten Staaten erkennen an, daß alle Chinesen auf beiden Seiten der Formosastraße sagen, daß es nur ein China gibt und daß Taiwan ein Teil Chinas ist. Die Regierung der Vereinigten Staaten stellt diese Position nicht in Frage.«
Im Juni 2023 flog US-Außenminister Antony Blinken nach Peking, wo er von seinem chinesischen Amtskollegen Qin Gang aufgefordert wurde, am Ein-China-Prinzip festzuhalten und »das Versprechen, eine Unabhängigkeit Taiwans nicht zu unterstützen, in die Praxis umzusetzen«. Die Taiwan-Frage sei Chinas »Kerninteresse aller Kerninteressen«. Daß Nixons Versprechen noch gilt, erscheint der chinesischen Führung als nicht mehr sicher, seit Donald Trump mit dem Taiwan Travel Act das Verbot für hochrangige Politiker, nach Taiwan zu reisen, aufgehoben hat und die in Taipeh regierende Demokratische Fortschrittspartei (DPP) mit der Idee einer Unabhängigkeitserklärung liebäugelt. Für Xi Jinping wäre dies ein Kriegsgrund. Vom Ziel der Wiedervereinigung will und kann er nicht abrücken. Sein Mißtrauen wuchs, als der frühere US-Außenminister Mike Pompeo im März 2020 in Taipeh für die »diplomatische Anerkennung als freies und souveränes Land« warb und als Präsident Joe Biden im Mai 2022 das kaum verhüllte Versprechen abgab, Taiwan bedingungslos zu verteidigen. Er rückte damit offenbar von der früheren Position ab, daß nur Waffen zur Verteidigung geliefert werden können.
Obwohl sich chinesische und amerikanische Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge in der Straße von Taiwan immer wieder gefährlich nahe kommen und trotz aller chinesischen Drohungen, ist ein Krieg um Taiwan derzeit nicht zu befürchten. Es besteht sogar die Chance auf einen Ausgleich zwischen der Insel und dem Festland. Bei den Wahlen 2012 konnte die Kuomintang, die Nationale Volkspartei, noch den Präsidenten stellen. 2016 und dann wieder 2020 gewann die gegenüber Peking feindselig eingestellte DPP. Die Kuomintang, die 1949 das Festland verlassen und sich mit ihren Truppen auf Taiwan zurückgezogen hatte, hat in den letzten Jahren an Popularität verloren. Ganz aus dem Spiel ist sie dennoch nicht.
Die Partei Tschiang Kai-scheks, der 1975 starb und dessen Sohn später seine Nachfolge antrat, hielt immer am Ein-China-Prinzip fest. Den Anspruch des Generalissimus, der im Bürgerkrieg bis 1949 von den USA auch finanziell unterstützt wurde, das Festland zurückzuerobern, hat die Partei aufgeben müssen. Sie steht jedoch im Gegensatz zur DPP für eine politische Annäherung an Peking. Je schärfer sich der Konflikt zuspitzt, desto eher könnte sie sich als Friedenspartei profilieren.
In den deutschen Medien wird unterschlagen, wie eng die Beziehungen zwischen den beiden Chinas bereits sind. Ebenso wie die Auslandschinesen in Singapur und anderen asiatischen Staaten investieren die taiwanischen Unternehmen seit langem auf dem Festland. Die beiden Volkswirtschaften sind verflochten. 2018, bevor China wegen Covid‑19 in Quarantäne ging, arbeiteten mehr als zwei Millionen taiwanische Fachkräfte mit ständigem Wohnsitz auf dem Festland – verglichen mit elf Millionen Arbeitskräften auf der Insel. Und im Juni 2023 kamen fünftausend Taiwaner zum 15. Straits Forum in Xiamen in der Provinz Fujian, davon über tausend, die ungeachtet der Warnungen der Regierungspartei direkt von Taiwan angereist waren, unter ihnen Vertreter der Kuomintang und zivilgesellschaftlicher Organisationen. Das Straits Forum dient der festlandchinesischen Propaganda als Plattform gegen die sezessionistischen Bestrebungen in Taipeh, belegt aber auch die keineswegs abgerissenen Bindungen der Han-Chinesen, die beiderseits der Taiwanstraße über 90 Prozent der Bevölkerung stellen. Bemerkenswert ist auch, daß die Kuomintang bei den jüngsten Kommunalwahlen deutlich zulegen konnte.
Daß sich die USA noch für ein paar Jahre keinen Krieg mit China leisten können, hat nicht zuletzt mit dem Unternehmen Taiwan Semiconductor Corporation (TSMC) zu tun. Die von der Regierung Biden verschärften Handelssanktionen sind für die chinesische Wirtschaft weitgehend verkraftbar – mit Ausnahme des Verbots, Mikrochips der neuesten Generation nach China zu liefern. Betroffen sind auch die zur Herstellung der modernsten Halbleiter benötigten Maschinen. Sie werden von der holländischen Firma ASML produziert. Daß die militärische und zivile Verwendung von Halbleitern nicht voneinander zu trennen sind, ist hinlänglich bekannt.
Die Brisanz des Problems erklärt sich damit, daß TSMC eine exklusive Fertigungskompetenz aufgebaut hat, die auf Jahre hinaus weder von chinesischen noch von amerikanischen oder europäischen Firmen eingeholt werden kann. Nach heutigem Stand kommen gut 90 Prozent aller global hergestellten High-Tech-Chips aus Taiwan. Deshalb muß die Führung in Peking befürchten, daß die USA im Falle eines Krieges das Personal von TSMC ausfliegen und die Fabrikanlagen zerstören würden. Und der amerikanische Alptraum sieht so aus, daß TSMC im Zuge einer friedlichen Wiedervereinigung in die Hände Pekings fallen würde, ohne daß ein Schuß abgefeuert wird. Daher die Subventionierung einer neuen TSMC-Fabrik auf amerikanischem Boden, daher auch die Subventionierung des kränkelnden Konzerns Intel. Daran darf sich Deutschland mit 9,9 Milliarden Euro beteiligen – eine enorme Subvention für die in Magdeburg geplante Fabrik. Wie lange es dauern wird, bis Intel mit TSMC gleichgezogen hat, steht in den Sternen.
Als der chinesische Ministerpräsident Li Qiang im Juni Berlin besuchte, kreiste die deutsche Diskussion wieder einmal um die angeblich so bedrohliche Abhängigkeit von China. Was kann damit gemeint sein? Tatsächlich ist das asiatische Land Deutschlands größter Handelspartner, tatsächlich kommen von dort 85 Prozent der deutschen Importe von Eisen und nichtlegiertem Stahl. Es stimmt auch, daß ein Abbruch der Handelsbeziehungen den Stillstand der sogenannten Energiewende bedeuten würde: 95 Prozent der hier verbauten Solarzellen kommen aus China, keine Windturbine funktioniert ohne die seltenen Erden aus chinesischer Produktion. Und auch bei den Batterien für E‑Autos sind chinesische Firmen weltführend. Daß der chinesische Anteil an der weltweiten Herstellung von solaren Energiesystemen 75 Prozent beträgt und der europäische 1 Prozent, liegt nicht an der Bösartigkeit der Kommunistischen Partei Chinas, sondern daran, daß die Herstellungskosten in Europa doppelt so hoch sind – und an den nahezu uneinholbaren Produktionskapazitäten chinesischer Firmen.
Die Folgen einer Entkoppelung von China, von der grüne Politiker und kein Geringerer als Springer-Chef Mathias Döpfner träumen, bestünden in einer wirtschaftlichen Depression und einem Kollaps deutscher Schlüsselindustrien, etwa des Automobilsektors. Aber eine Entkoppelung strebt Bundeskanzler Scholz auch gar nicht an. Seine Äußerungen sind nur »das Echo dessen, was man im Weißen Haus so sagt«, kommentierte Gabor Steingart auf seiner Plattform The Pioneer. »Abhängigkeit« ist genau betrachtet ein propagandistisch aufgeladenes Gummiwort, zum einen weil Unternehmen konkurrieren und nicht Staaten, zum anderen weil niemand exportiert und importiert, wenn es sich für ihn nicht rechnet. Und auch weil mit der Stimmungsmache kaschiert werden soll, daß Sanktionen und Exportverbote ein nahezu exklusives Instrument der amerikanischen Weltmachtpolitik sind. Wenn Rußland und China sie verhängen, dann als Reaktion fast immer auf vorherige westliche Sanktionen.
In Wirklichkeit haben Deutschlands Industrie und Regierung Angst davor, daß Washington Maßnahmen oktroyiert, die nicht den exportschwachen USA, sondern Deutschland und der EU schaden. War Deutschland vom russischen Erdgas abhängig? Letzten Endes nicht – es wird durch Flüssiggas aus Amerika und anderen Quellen ersetzt, allerdings zu zeitweise astronomischen Preisen. Uran aus Rußland, auf das Amerika angewiesen ist, wurde nicht sanktioniert. Auch auf seltene Erden kann die amerikanische Industrie nicht verzichten – sie werden zu 95 Prozent aus China importiert. Die Ironie des amerikanischen Sanktionsregimes zeigt sich daran, daß zum Beispiel der Rüstungskonzern Raytheon einerseits keine Waffen nach China liefern darf und andererseits mehrere tausend Zulieferer in China unter Vertrag hat, ohne die er nicht produzieren könnte. Ein Fall von realer Abhängigkeit, die einem baldigen Krieg im Wege steht.
Zuerst an sich selbst zu denken müssen die Deutschen noch lernen. Auch die neue China-Strategie, an der die Ampelkoalition derzeit bastelt, wird der Frage ausweichen, ob es im deutschen Interesse liegt, sich in einen Konflikt in Asien hineinziehen zu lassen. Geradezu komisch ist die Aufregung über die chinesische Minderheitsbeteiligung an einem Hamburger Hafenterminal und bezeichnend die Ignoranz der Außenministerin, die forsch behauptete, China verbiete Investitionen in seine Infrastruktur durch ausländische Unternehmen. Sie hätte sich bei der dänischen Reederei A. P. Møller-Mærsk erkundigen können – die ist gleich an acht Containerterminals in China beteiligt.
Letzten Endes werden sich die Europäer entscheiden müssen, ob sie den Vorgaben aus Washington folgen und China zum Feind erklären oder ob sie mit China ohne Phobie und ohne Naivität selbstbewußt und souverän verkehren. Falls es wahr sein sollte, daß das 1,4‑Milliarden-Volk die »Weltherrschaft« anstrebt, müßte der Westen tatsächlich die Reihen schließen. Falls sich aber in Ostasien nur der klassische Konflikt zwischen einer führenden und einer aufstrebenden Großmacht abspielt, haben die Deutschen und die Europäer die Option, neutral zu bleiben und ihre Vermittlung anzubieten.
Für die These von den Weltherrschaftsambitionen, die Europa angeblich bedrohen, spricht nichts – dafür fehlen die Voraussetzungen. In seinem 1996 erschienenen Klassiker Kampf der Kulturen kam Samuel P. Huntington zu diesem Schluß: »Seine Geschichte und Kultur, seine Traditionen, seine Größe und wirtschaftliche Dynamik und sein Selbstverständnis treiben China dazu, eine Hegemonialstellung in Ostasien anzustreben. Dieses Ziel ist das natürliche Resultat seines rapiden Wirtschaftswachstums«, denn schließlich sei China zweitausend Jahre lang die herausragende Macht in Ostasien gewesen.
Wenn Präsident Xi Jinping in seinen Reden an die Reiche der Zhou (1050–249 v. Chr.) und der Han (202 v. Chr. – 220 n. Chr.) erinnert, wenn er vor dem Zentralkomitee sagt, das Rechtssystem des alten China sei reich an Weisheit und Wissen, wenn er aus den »Gesprächen« des Konfuzius vorliest, dann sieht er sich in der Tradition von Dynastien, die bis zurück ins 16. Jahrhundert v. Chr. historisch belegt sind. Die Kommunistische Partei, die er als Generalsekretär führt, bedient sich mit dem Marxismus eines Imports aus dem Westen, fungiert aber primär als Instrument des Machterhalts. Insofern überwiegt der Leninismus den Marxismus, und beide sind überlagert von der Religion des Nationalismus. Ohne seine historischen Bezüge, ohne die kapitalistischen Elemente und ohne die Gesellschafts- und Sittenlehre des Konfuzianismus ist das nachmaoistische China nicht zu verstehen.
Während der Kulturrevolution Maos wurden zweitausend Gräber der Nachfahren des Konfuzius in der Kleinstadt Qufu geschändet, wurde die Statue des Philosophen von Rotgardisten gestürzt und durch die Straßen geschleift. Xi Jinping aber besuchte 2013 als erster KP-Chef die Gedenkstätte und nannte die Lehren des Meisters einen »wichtigen Bestandteil unserer traditionellen Kultur«. Dann durchschritt er das »Tor des Respekts für einen Heiligen«, das in früheren Zeiten nur für den Kaiser geöffnet wurde. In westlichen Augen ist Xis Herrschaft totalitär, aus chinesischer Sicht ist sie kompatibel mit der Geschichte des Landes und der Philosophie des Konfuzius, die als kollektivistisch, nicht als individualistisch zu verstehen ist.
Für Lee Kuan Yew, den legendären Staatsmann Singapurs, der von westlichen und chinesischen Politikern gleichermaßen konsultiert wurde, bestand das konfuzianische Ideal darin, ein Ehrenmann zu sein, der »seinem Vater und seiner Mutter gehorcht, seiner Frau treu ist, seine Kinder gut erzieht, seine Freunde gut behandelt, vor allem aber ein guter, loyaler Bürger seines Kaisers ist«. Den Vereinigten Staaten empfahl der in England ausgebildete Lee, der eine kleine Malaria-Insel in einen reichen Stadtstaat verwandelte, sich China nicht als Feind zu präsentieren, sondern es als Großmacht anzuerkennen und die Wiederherstellung seiner glorreichen Vergangenheit zu begrüßen.
Daß die drei oder vier Jahrtausende dieser Vergangenheit nicht immer glorreich waren, hat sich dem Geschichtsbewußtsein des chinesischen Volkes aber ebenfalls eingebrannt. Die Dynastien der Tang (618–907), der Song (960–1279) und der Ming (1368–1644) blieben in guter Erinnerung, und doch wurde das Reich der Mitte immer wieder durch Spaltungen in Nord und Süd erschüttert, durch Bürgerkriege, Volksaufstände, Invasionen aus dem Norden und Jahrhunderte der Fremdherrschaft. Dann verlor der Kaiser den Segen des Himmels. Daß Ordnung und Harmonie einer zentralen und gerechten Regierung bedürfen, ist Konsens dieser Kultur. Xi muß wissen, daß er die Erwartungen nicht enttäuschen darf, will er seine Herrschaft und die der Partei nicht in Gefahr bringen.
In Der Untergang des Abendlandes vergleicht Oswald Spengler politische Epochen und datiert die »Vorzeit« der chinesischen Kultur auf die Shang-Zeit von 1700 bis 1300 v. Chr. und die »Vorzeit« der abendländischen Kultur auf die Zeit der Franken von 500 bis 900. Demnach wäre die chinesische Kultur mehr als zweitausend Jahre älter. Spengler schrieb, kein Mensch des Abendlandes dürfe hoffen, die Chinesen ganz zu verstehen. Das Innerste jeder fremden Nation bleibe für den Durchschnittsmenschen und damit für die öffentliche Meinung »ein ständiges Geheimnis und die Quelle beständiger, folgenschwerer Irrtümer«. Spengler, der tiefer als andere in fremde Kulturen eindrang, empfahl Demut. Wie anmaßend klingt dagegen die Versicherung des amerikanischen Präsidenten Biden, solange er im Amt sei, werde China nicht an sein Ziel gelangen, »zum führenden, reichsten und mächtigsten Land der Erde« aufzusteigen.
Vom Clash der Weltmächte zutiefst verunsichert, flüchten deutsche Politiker in die von der EU erfundene Formel, China sei zugleich Partner, Konkurrent und Systemrivale – so als könnten Partner systemisch rivalisieren. In Berlin warten sie auf die Handlungsanweisung aus den USA, der vermeintlich einzigen Weltmacht, und begreifen nicht, daß die neue multipolare Welt, der sich Washington in den Weg stellt, bereits Realität ist. Sie verharren in Denkmustern des verflossenen Kalten Krieges mit seinen Blockzwängen. Deutschland als Vasall und EU‑Provinz – mit nur zehn anerkannten Chinesisch-Dolmetschern, mit keiner öffentlichen Institution, die solche Dolmetscher ausbildet, mit nur fünfzig China-Professuren, dafür aber mit solchen für mittlerweile 173 pseudo-wissenschaftliche Gender Studies. Deutschland ist auf Kollisionskurs mit einer Kultur, die es nicht ernsthaft zu verstehen versucht. ◆
BRUNO BANDULET,
geb. 1942 in Bad Kissingen, war Chef vom Dienst der Tageszeitung Die Welt, Autor von Zeitbühne, Epoche und TransAtlantik sowie bis 2013 Herausgeber des Finanzdienstes Gold & Money Intelligence. Er schreibt regelmäßig für Cato.